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Waldstadion Kaffeetälchen – ein Sehnsuchtsort für Fußballromantiker
Waldstadion Kaffeetälchen – ein Sehnsuchtsort für Fußballromantiker

Waldstadion Kaffeetälchen – ein Sehnsuchtsort für Fußballromantiker

Vom geographischen Mittelpunkt Deutschlands nur 40 Kilometer entfernt befindet sich der deutsche Mittelpunkt für Fußballromantiker: Das Waldstadion Kaffeetälchen.

Noch etwas Geographie gefällig? Keine zehn Kilometer von der ehemaligen Zonengrenze entfernt liegt es – das war auch für DDR-Verhältnisse das Ende der Welt. Dort, am Ende der Welt, im beschaulichen Tiefenort gibt es ein Stadion voller Geschichte und Geschichten. Zu viele, als dass ich sie hier niederschreiben, geschweige denn, alle recherchieren könnte. Wenn du das Waldstadion Kaffeetälchen besuchst, kannst du die Geschichten selbst nachlesen, praktisch hängt ein Schaukasten mit alten Zeitungsartikeln vor der Haupttribüne.

Um besagtes und sagenumwobenes Kaffeetälchen zu erreichen, muss man erstmal nach Tiefenort gelangen. Von Eisenach geht’s eine halbe Stunde durch die Prärie und dann bist du erst im Ort. Dann musst du noch ein Mal quer und wenn du schon denkst, du würdest wieder aus dem Ort rausfahren, führt ein kleiner Holzwegweiser nach rechts und du fährst noch nen halben Kilometer über einen staubigen Waldweg. Wenn du denkst, im absoluten Nichts angekommen zu sein, stehst du vor dem schmiedeeisernen Tor mit der Aufschrift BSG Aktivist und kannst dir sicher sein, dein Ziel erreicht zu haben.

Du stehst vor dem schmiedeeisernen Eingangstor, an dem die frisch gelb gestrichenen Buchstaben „BSG Aktivist“ prangen. Alles macht einen gepflegten Eindruck, nichts verfällt, verwuchert, vergammelt. Das ist insofern erstaunlich, als dass der heimische Verein, der auf den wunderbaren Namen BSG Kali-Werra Tiefenort hört, nun schon seit einiger Zeit in der harten Realität der Thüringer Kreisliga angekommen und darüber hinaus akut abstiegsgefährdet ist. Auf den Zustand des Spielfeldes wäre so mancher Profiklub neidisch und von der auf stabiler Pappe gedruckten Eintrittskarte können sich manche Profiklubs eine gehörige Scheibe abschneiden. Darüber hinaus entdeckte der entzückte Schreiber dieser Zeilen einen bedruckten Becher, in den leider Vita Cola gefüllt wurde.  

Die BSG Kali-Werra Tiefenort

Wie der Name verrät, war der heimische Verein einst eine Betriebssportgemeinschaft, also einem Trägerbetrieb angeschlossen. Recht logisch dann auch die Art des Trägerbetriebs, die Kali-Werke des örtlichen Kalireviers Werra. Trotz der Abgeschiedenheit und der Tatsache, dass aufgrund der „Nähe zum Klassenfeind“ Spieler nur äußerst widerwillig nach Tiefenort delegiert wurden, rollte der Ball durchaus erfolgreich. 1968 nahm Kali-Werra an der Aufstiegsrunde zur zweitklassigen DDR-Liga teil. Das entscheidende Spiel fand in der im letzten Beitrag erwähnten Manfred-von-Brauchitsch-Kampfbahn gegen die BSG Motor Rudisleben statt.

Kali-Werra stieg in die zweitklassige DDR-Liga auf und blieb dort mit zwei kurzen Unterbrechungen bis 1988. Auch weil, so weiß es der ehemalige Spieler und heutige ‚Chefarchivar‘ Heiko Adler zu berichten, „die in Tiefenort schon ordentlich bezahlt haben.“ Nun war Profisport in der DDR natürlich verpönt und hat offiziell nicht stattgefunden, aber selbstredend war die Verbindung zu den Kali-Werken auch dafür zu gebrauchen, den Spielern paradiesische Arbeitsbedingungen zu präsentieren. Und das Geschäft lief gut, Kalisalz war einer der wichtigsten Exportschlager des Landes.

Auch die letzte Saison des DDR-Fußballs erlebte Kali-Werra in der zweiten Liga, landete allerdings einigermaßen chancenlos auf dem vorletzten Platz. Durch die Nähe der nun offenen Grenze erlebte Tiefenort den Exitus schneller als so mancher Ort weiter im Landesinneren und so musste die BSG, bzw. der 1990 neu gegründete FSV im bundesdeutschen Fußball mit dem vierten Level Vorlieb nehmen, das aber auch nur ein Jahr gehalten wurde. In der fünftklassigen Thüringenliga hielt man sich mit einer weiteren Unterbrechung dann bis zum Jahr 2000. Dieses Niveau konnte seitdem nicht mehr erreicht werden, seit einigen Jahren ist Kali-Werra nur noch auf Kreisebene unterwegs.

Detlef Zimmer

Bekanntester Spieler der BSG ist sicher Torwart Detlef Zimmer, der drei Jahre in Tiefenort spielte, bevor er zur BSG Stahl Brandenburg wechselte, mit denen er 1986 legendäre Europapokal-Spiele erleben und 1991/92 in der zweiten Bundesliga antreten durfte. Zwei Mal wurde er von der „Fußballwoche“ zum Torwart des Jahres ausgezeichnet.

Dass Zimmer überhaupt bei Kali-Werra die Botten schnürte, war dem DDR-System zu „verdanken“: Eigentlich sollte er bei Carl-Zeiss Jena den legendären Hans-Ulrich Grapenthin beerben, zur Bedingung wurde aber gemacht, dass Zimmer seine „Westkontakte“ abbrechen sollte. Als er sich weigerte, wurde er wegen „unmoralischem Lebenswandel“ und anderer – vermutlich erfundener – Disziplinlosigkeiten auf Lebenszeit für die DDR-Oberliga gesperrt. Und landete im Kaffeetälchen.

Das Kaffeetälchen

Dieses wurde bereits 1926 eröffnet und Mitte der 60er für die Anforderungen der DDR-Liga auf 8.000 Plätze erweitert. Halt, ich muss mich korrigieren: Achttausend und sechs, denn wie die Vereinshomepage nicht ganz ironiefrei zu berichten weiß, „hat unser fleißiger Archivar Heiko Adler im Dickicht hinter der Gegengerade zwei verschollene Zuschauer-Bänke entdeckt.“ 

Achttausend! Mitten in diesem Wald! Auf Tribünen, die so steil und endlos wirken, wie im legendären Mestalla zu Valencia. Die so dicht am Spielfeld sind, dass man dem Eckballschützen das Toupet vom Schädel reißen könnte. Die mit ihrem groben Stein, der in der Wiese steckt und den rostigen und windschiefen Wellenbrechern eher an ein Lost Place erinnern, als an ein Stadion. Diese Achttausend kamen. Öfters. Ins Örtchen mit knapp viertausend Seelen und ohne Bahnanschluss.

Ihr Image als Kultverein pflegen sie schon auch, dort im Kaffeetälchen, auch wenn es dafür eine externe Initialzündung brauchte: Irgendwann entdeckte Jonas Schulte von groundblogging.de dieses verbuddelte Schätzchen und beschloss, dass die Hopper-Gemeinde dieses Stadion kennen sollte. Es folgten immer mehr Fußballromantiker und 2023, zum 110-jährigen Vereinsjubiläum ein Jubiläumsspiel und die Finalspiele des Kreispokals Westthüringen, standen über 2.000 Zuschauer auf der Matte und das Kaffeetälchen erlebte ein vermutlich nicht für möglich gehaltenes Revival. Ohne mich, übrigens, woran man erkennt, wie wenig ich in der Hopperszene drin bin. Ich habe davon nämlich nichts mitgekriegt. 😉

Zur heimeligen Atmosphäre vor Ort tragen auch die Vereinsmitglieder bei. Schon an der improvisierten Tageskasse wird der Ortsfremde neugierig begutachtet, die schon erwähnten Becher mit Aufdruck und richtigen Eintrittskarten suchst du in der Kreisliga sonst vergeblich, selbst einen Online-Fanshop gibt es. Der Stadionsprecher ist wohl gerne auf der Suche nach fremden Kennzeichen auf dem Parkplatz, denn er begrüßte jeden einzelnen „Gast von weit her“ persönlich per Durchsage und egal wen man fragen würde, vermutlich würde jeder bereitwillig eine Anekdote von früher erzählen.

Das Spiel

Auch hier zitiere ich einfach wieder die Homepage, denn schöner hätte ich das Geschehen auf dem Rasen nicht zusammenfassen können:

„Wer Kleidungsstücke rollt statt faltet, spart Platz im Urlaubskoffer. Beim Zwiebelschneiden Kaugummi zu kauen, verhindert feuchte Augen. Ein jeder schwört auf andere Life Hacks. Kleine Tricks, die das Leben leichter machen. Unser Life Hack wird es künftig sein, bei der Saisonplanung vorsorglich keine Punktgewinne aus Spielen gegen den SV Wacker 04 Bad Salzungen einzukalkulieren. Aus statistisch nachvollziehbaren Gründen.“

Dies soll erstens über den 0:2-Endstand vor 120 Zuschauern informieren und zweitens dazu animieren, die Homepage einmal selbst zu besuchen, deren Redakteur diesen gar wundervollen Schreibstil pflegt. Und wer danach noch mehr über das Kaffeetälchen und die Geschichte hinter der BSG Kali-Werra erfahren möchte und auf einer langen Autofahrt zwei Stunden Zeit hat, dem sein ganz besonders die Folge 204 des besten Fußballpodcasts Deutschlands (mit dem blödesten Namen, btw…) ans Herz gelegt: Hörfehler – Nick Kaßner trifft erwähnten Heiko Adler für einen anekdotenreichen Spaziergang durch den Sehnsuchtsort für Fußballromantiker.

Ich beende solche Geschichten gern mit der Warnung, sich mit einem Besuch ja zu beeilen, falls ein solcher überhaupt noch möglich ist. Grüße gehen raus nach Riesa. Immerhin diese Furcht ist hier unbegründet, das Kaffeetälchen wurde und wird behutsam renoviert und auch die lang diskutierten Pläne, hier Kunstrasen zu verlegen, sind zum Glück vom Tisch. Am Ende siegte die wirtschaftliche Vernunft, denn auch, wenn Kunstrasen pflegeleichter ist, die Groundhopper-Frequenz hätte massiv darunter gelitten.

2 Kommentare

  1. Andreas

    Herzerwärmend! Was für schöne eindrückliche Bilder. Die ehemalige DDR bietet so manche Schmuckstücke, und das meine ich jetzt tatsächlich nicht ironisch. Wie schon die Brauchitsch Kampfbahn in Rudisleben. Vom Kaffetälchen zu meinem Kaffeetisch übrigens nur ein „Katzensprung“ 😂
    Deine Texte sind eine Freude. Locker und spannend zugleich. 👍

    1. Ben

      Moin Andreas,

      vielen Dank. 🙂

      Absolut ironiefrei gibt es in der ehemaligen DDR sehr viele Schmuckstücke. Man muss sie nur finden und man muss auch bereit sein, sie finden zu wollen. Daran hapert es ja leider oft.

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