Es geht nicht nur um Fußball, aber diesmal stand das runde Leder im Mittelpunkt. Und auch die Besetzung war etwas anders als sonst. Außerdem war es warm. Unfassbar warm! Folgt mir auf eine Reise in ein längst vergessenes und vom Zahn der Zeit schwer gezeichnetes Stück DDR-Stadiongeschichte.
Prolog: Hamburg
Zunächst jedoch ging es über Umwege nach Hamburg. Dort war es alles, aber nicht warm. Hamburg halt. Mit dem ICE fuhr ich in Richtung Hannover. Und landete für eine halbe Stunde in Hamm. Zugteilung, bzw. -zusammenführung. Ich Fantast habe wirklich geglaubt, 17 Minuten Umsteigezeit in Hannover würden reichen. Auf einem Freitag. Ich Idiot! Zum Glück war die weitere Reise nicht zeitkritisch, Hannoi sammelte mich bei ihm vor der Haustür ein und fuhr mich dankenswerterweise zu meinem neuen Auto. Anschließend fuhren wir weiter nach Hamburg, nordpolar besuchen. Der wollte auch mal E-Auto fahren. Besuche bei ihm sind niemals kurz, diese Erfahrung machten wir bereits im letzten Februar. Auch diesmal kamen wir nicht vor der Geisterstunde raus, mussten dann noch irgendwo was essen und nachdem ich Hannoi wieder an seinem Auto abgeliefert habe, fuhr ich in meine Zwischenstation in der Heimat. Um 5 Uhr klingelte der Wecker…
A few moments later
Nicht mal drei Stunden später war es bereits 5 Uhr. Irgendein Komiker hat das erste Spiel für 11 Uhr angesetzt und zwischen mir und dem Stadion lagen noch fast 400 Kilometer und ein nicht komplett vollgeladenes Auto. A propos Auto, lest ihr hier auch direkt den Grund, warum ich den Kia Niro verkauft habe. Mit dem Ding werden solche Touren wie heute völlig undenkbar gewesen, weil die im Vergleich viel längeren Ladezeiten den verbliebenen Schlaf in eine Richtung gedrückt hätten, in der ich mich niemals hinter ein Steuer gesetzt hätte und weil wir dadurch das zweite Spiel einfach gar nicht erst geschafft hätten. Es ist wieder ein E-Auto und es lädt wesentlich schneller nach. Und es sieht viel cooler aus, irgendwie muss man ja auch die heimische Finanzministerin überzeugen.
Und doch war der Zeitplan arg knapp kalkuliert und ich kam erst ca. 20 Minuten vor Anpfiff am Parkplatz an. Glücklich, eine Ladesäule gefunden zu haben, steckte ich das Auto an… Säule defekt. Geil. Was für mich bedeutete, dass ich nach dem Spiel noch irgendwo zwischenladen muss, um das nächste Etappenziel zu erreichen. E-Mobilität kann bisweilen frustrieren, willkommen in Deutschland im Jahr 2024.
Vor dem Spiel traf ich meine heutige Gesellschaft. Beastieboy, der die Kassierer sämtlicher Bayerischer Dorfbolzplätze beim Vornamen kennt und Captain BlackAdder, der die Fanartikelverkäufer sämtlicher Berliner Hinterhofbolzplätze beim Vornamen kennt. Flugs drückten sie mir mein Ticket in die Hand und wir betraten das weite Rund.
Das erste letzte Spiel
Wir befanden uns nun im Ernst-Grube-Stadion zu Riesa, einen Hoeneß-Elfmeter vom Hauptbahnhof entfernt. Dieses wurde 1955 eröffnet und diente der BSG Stahl Riesa als standesgemäße Heimspielstätte. Als die BSG Stahl 1968 in die DDR-Oberliga, also die höchste Liga im DDR-System, aufstieg, wurde das Stadion auf 15.000 Plätze ausgebaut. Dort spielte Stahl insgesamt 16 Spielzeiten, zumeist allerdings im unteren Tabellendrittel.
Wie so vielen Vereinen der ehemaligen DDR, tat die Wende auch Stahl Riesa nicht besonders gut. Es ging abwärts, es wurde mehrfach fusioniert und 2003 war das Schicksal des Vereins endgültig besiegelt. „Die Grube“, wie die Fans das Stadion nannten, verlor über Nacht ihren einzigen Nutzen. Stahl Riesa gründete sich zwar im gleichen Jahr neu, spielte allerdings nie wieder über einen längeren Zeitraum in der Grube, sondern pachtete einen anderen Platz, den sie sukzessive herrichteten und der – Namenssponsoren sind schon was tolles – eine Zeit lang auf den prächtigen Namen Nudelarena hörte.
Die selbst ernannte Sportstadt Riesa hatte sich ungefähr zeitgleich mit verschiedenen anderen, völlig überdimensionierten Projekten, ziemlich übernommen und interessierte sich nicht mal ansatzweise für die Grube, die in der weiteren Zeit lustig vor sich hin verfiel. Es fanden immer mal vereinzelt Spiele im Stadion statt, aber mittlerweile hätte es einer Generalsanierung bedurft, für die niemand aufkommen wollte.
Und so trug es sich zu, dass an diesem 8. Juni 2024 das voraussichtlich letzte Spiel in der Grube stattfinden sollte. Seit einiger Zeit kümmert sich der famose Instagram-Account lostgroundhop um die Erhaltung, oder immerhin die würdige Verabschiedung fußballdeutschen Kulturguts und organisiert zusammen mit seinen Partnern in Crime, der 1. Herrenmannschaft des Polizeisportverein Braunschweig Freundschaftsspiele in alten, nicht mehr bespielten Stadien. „Clubkrawatte“ aus dem Forum bezeichnete es passend als Groundhopper-Klassentreffen.
So auch hier, denn es dauerte keine 30 Sekunden, bis meine Begleiter bekannte Gesichter unter den (offiziell) 999 Zuschauern ausmachten und in Gespräche vertieft waren, während ich erstmal Frühstück suchte. Man tauschte Anekdoten, Geschichten und Pläne aus und das Spiel verkam schnell zur Nebensache. Dieses war allerdings aufgrund der affigen Temperaturen und des Freundschaftsspiel-Status auch nicht gerade ein Augenschmeichler.
Oh, Schatz!
Nun hatten wir nach dem Spiel die Herausforderung, in ungefähr 90 Minuten ca. 90 km überbrücken zu müssen. Ausschließlich Landstraße! Ihr erinnert euch, ich konnte nicht laden und brauchte so auf jeden Fall eine kurze Pause. Diese legten der mittlerweile auf dem Beifahrersitz lungernde Captain BlackAdder und ich im beschaulichen Oschatz ein. Wir staunten aus der Entfernung über die schöne Kirche, wunderten uns über das Grafitto „Oschatz Crime Time“ und freuten uns über die örtlichen Firmenwegweiser, die direkt untereinander den Weg zur Trauerhilfe und zum Sex-Shop wiesen. Weil wir so schnell nicht anhalten konnten, hier ein Screenshot aus Google Street View:
Quizfrage an die fußballaffine Leserschaft: Wo steht das größte Stadion Thüringens? Erfurt? Jena? Mitnichten! Im beschaulichen Altenburg, das normalerweise überregional für seine Spielkarten bekannt ist, steht die passend benannte Skatbank-Arena mit einer offiziellen Kapazität von 25.000 Zuschauern. Altenburg hat knapp über 31.000 Einwohner. Für wen haben die dieses Stadion gebaut? Erschwerend kam hinzu, dass der ansässige Verein, Motor Altenburg, seine paar Jahre in der DDR-Oberliga bereits hinter sich hatte, als das Stadion im Jahre 1957 eingeweiht wurde. Zwischen 7.000 und 10.000 Fans kamen aber dennoch regelmäßig.
Das zweite letzte Spiel
Leider ahnte in Altenburg niemand, was sich im knapp 90 km entfernten Riesa zusammenbraute, denn selbstverständlich hatten nicht nur wir die Idee, beide Spiele miteinander zu kombinieren. Die Kassenkraft schickte schnell einen Jugendspieler, noch nen Satz Eintrittskarten aus dem Schrank zu holen und irgendwer schwang sich kurz vor Spielbeginn in den Vereinsbus und hetzte zum örtlichen Getränkemarkt, um den vielen durstigen Kehlen gerecht zu werden. Normalerweise kommen hier mit Glück mal 80 Leute, diesmal waren es mehr als 300. Die ortsanwesenden Dauergäste freuten sich sichtlich über die zahlreichen neuen Besucher und forderten uns sogar vehement auf, ihre Zaunfahne und ihre Jubelposen zu fotografieren.
Motor Altenburg spielt mittlerweile in der Kreisoberliga, was die achte Stufe des Thüringischen Ligasystems darstellt. Gegner war der SV Blau-Weiß 1990 Niederpöllnitz und da es der letzte Spieltag der laufenden Saison war, ging es für beide um nicht mehr als die berühmte goldene Ananas. Dabei schien es, als hätte Motor erstmal überhaupt keinen Bock auf das Spiel. So stand es zur Halbzeit 0:2, inkl. eines absurden Tores aus ungefähr 40 Metern, aber der Torwart war auch nur wenig größer als ein durchschnittlicher Hobbit.
Kurz nach der Pause fiel direkt das 0:3 und alle dachten, dass es das bereits war. Nur eine Minute später fühlte sich Altenburg aber offenbar bei der Ehre gepackt und erzielte das 1:3, was die Gäste aus Niederpöllnitz zuerst nicht sonderlich beeindruckte. Als aber 15 Minuten vor Schluss das 2:3 fiel, flatterten plötzlich sämtliche Nerven und nur vier Minuten später traf Altenburg zum umjubelten 3:3-Endstand, der die Saison versöhnlich beendete.
Wir sattelten derweil die Hühner, am Ausgang zeigten sich ein paar Vereinsmitglieder noch höchst dankbar für den zahlreichen Besuch und ich lud den Captain ins Auto, um ihn zum Leipziger Hauptbahnhof zu chauffieren.
Ein Abend in Leipzig
Nach nicht mal drei Stunden Schlaf und dieser sengenden Hitze war mein Interesse, nach den Spielen noch 500 km nach Hause zu gurken, doch arg überschaubar. Also buchte ich mir für eine schmale Mark ein Hotel vor Ort und beschloss, mich dieser Stadt mal fotografisch zu nähern. Dabei hatte ich richtiges Glück. Klar, Hannoi war ja auch nicht mit dabei. Der ganze Tag war wolkenlos, aber pünktlich zum Sonnenuntergang schoben sich ganz dünne Wolken in den Himmel. Praktischerweise stand ich sowieso gerade zufällig vor dem Bundesverwaltungsgericht herum.
Ich beeilte mich anschließend, die einbrechende blaue Stunde am Völkerschlachtdenkmal zu erleben. Ja, natürlich hat das Ding jeder schon fotografiert, aber ich heiße ja nicht „jeder“. So stellte ich mein Stativ – so meinte ich jedenfalls – in der Mitte auf und knipste fröhlich ein paar Bilder. Ich packte zusammen, war in Aufbruchstimmung, ehe ich von einer ebenfalls anwesenden Fotografin angequatscht wurde, ob sie mir mal Platz machen soll, damit ich auch mal mittig in die Sichtachse komme. Hä? Hab ich so einen Knick in der Optik gehabt? Mir ist das wirklich nicht aufgefallen!
Die Fotografin stellte sich als Mia vor (Link zu ihrem Insta-Account) und war als Local mit einigen, mir unbekannten Fotospots vertraut. Sie schleppte mich auch sogleich in Richtung eines dunklen Friedhofs. Was im ersten Moment creepy klingt, entpuppte sich schnell als nettes Fotomotiv keine 50 Meter neben dem Völkerschlachtdenkmal. Das Ding hätte ich niemals gefunden! Leider war die Kapelle nicht beleuchtet.
Das und die nachfolgende Verquatschung sorgte allerdings dafür, dass meine blaue Stunde schlagartig schwarz wurde. Mehr als ein kurzer Abstecher zum Neuen Rathaus war nicht mehr drin und eins war bereits gewiss: Der Sonnenaufgang würde für mich ausfallen. Womit auch gewiss ist, dass Leipzig mich wiedersehen wird.
So unternahm ich am Sonntag nur noch einen kleinen Umweg nach Leutzsch. Hier, mitten im Wald, steht das Stadion von Chemie Leipzig. Fußball gucken war ich da schon mal, Leser der ersten Stunde erinnern sich vielleicht. Für alle anderen ist der Beitrag hier verlinkt. Heute wollte nur die Drohne auch kurz mal ihre Berechtigung einfordern, überhaupt mitgenommen worden zu sein. Und dann ging es auch schon nach Hause.
Servus Ben, da ist er also wieder, der unvermeidliche Kommentar deines Stammkommentators. Ich fühle mich fast schon wie ein Stalker 😊. Spaß beiseite. Meine Kommentare kommen von Herzen, das kann ich dir garantieren, besonders diese Geschichte hat es mir angetan und das hat einen Grund. Ich war über 20 Jahre in Thüringen tätig, habe Land und Leute sehr intensiv kennengelernt, Orte wie Weimar, Erfurt, Nordhausen, Gotha, aber auch Altenburg, Suhl, Meiningen und und und standen auf meiner geschäftlichen Agenda. Hat jetzt alles nix mit Fußball und deinem Beitrag zu tun – doch natürlich. Mich haben die Bilder sehr berührt. Sie stehen für das, was ich im Osten der Republik immer wieder erlebt, gesehen und gerochen habe. Ursprünglichkeit, Schönheit, Verfall, Trotz, Stolz, Verzweiflung, Abgrenzung, Herzlichkeit… wild durcheinander, manchmal verwirrend, oft eindrücklich, aber nie oberflächlich. Das, was du in diesen Bildern festgehalten hast, das ist das, was mir noch heute in Erinnerung ist. Hört sich jetzt alles nur romantisch an, aber die Schattenseiten sind natürlich auch da, damals wie heute. Ob es die – berechtigte oder nicht – Ablehnung und Feindseligkeit gegen uns Wessis war, oder die aktuelle politische Stimmung. Aber das führt jetzt wirklich zu weit. Deine Bilder sind gespenstisch schön, manchmal einfach nur perfekt. Und der Text. „…..einen Hoeneß-Elfmeter vom Hauptbahnhof entfernt…“ Herrlich.
Freue mich schon auf den nächsten Bericht. Vielleicht halte ich mich dann mal etwas zurück 😜
Ja, cool. Da bist du einfach durch meine Heimat gefahren. Nun habe ich meine Heimat noch einmal durch die Fußball-Brille kennengelernt. Danke für die Erweiterung meines Horizonts. An sich interessiert mich Fußball überhaupt nicht.
Ebenfalls habe ich mich gefreut, deine schönen Fotos meiner Studienstadt Leipzig zu sehen 🙂
Beste Grüße
Hi Futzipelz,
bitte entschuldige meine späte Antwort, WordPress hielt es nicht für nötig, mich über deinen Kommentar zu informieren. 🙂
Wie schön, dass ich deinen heimatlichen Horizont erweitern konnte. Ich bin mir sicher, dass ich es dir schon mal geschrieben habe, aber wenn sich jemand null für diese Fußlümmelei interessiert, meine Berichte aber dennoch liest, ist das immer eine ganz besondere Freude.